Auf und ab – wenn Zahlen Dein Leben bestimmen

Ich bin Sophie, 31 Jahre alt, verheiratet, Vorstandsmitglied des Vereins LuKISS e.V. mit fast 30 Selbsthilfegruppen und wohne in Ludwigsfelde in Brandenburg.

Meine Geschichte fängt eigentlich schon in der Kindheit an. Mit ca. 9 Jahren wurde ich das erste Mal mit sexuellen Übergriffen konfrontiert. Seitdem bin ich immer wieder in Therapien. Mit 17 Jahren erlebte ich den schlimmsten Vorfall, der mein Leben total aus der Bahn werfen sollte. Nur durch Verdrängung habe ich die erste Zeit danach überstanden. Es hat knapp ein Jahr gedauert, bis ich mich wieder an diese Nacht erinnert habe. Als dann die Erinnerungen langsam wieder hochkamen, konnte ich nicht mehr allein und ohne eine „Brechtüte“ das Haus verlassen. Ich habe angefangen zu „fressen“, damit ich unattraktiv für Männer werde und ich nie wieder angefasst werde. Als ich dann die ersten 20 kg zugenommen hatte, wollte ich doch wieder abnehmen – aber da war es schon zu spät. Ich war tief in der Essstörung „Binge-Eating“ gefangen und habe dann in ca. 2 Jahren 60 kg zugenommen, von ca. 72 kg auf 132 kg. Mein Höchstgewicht am Ende waren 150 kg.

Mein Körper konnte die schnelle Zunahme nur schwer verkraften. Ich konnte kaum noch laufen, brauchte für lange Strecken einen Rollator und hatte ständig Schmerzen. Wenn überhaupt hatte ich nur noch alle sechs Monate meine Periode. Am Ende war ich so dick, dass ich u.a. in Krankenhäusern ein breiteres Bett brauchte und im Auto eine Verlängerung für den Sicherheitsgurt. Irgendwann – nach einem Suizidversuch- kam dann der Punkt, an dem ich wusste, ich brauche Hilfe. Also bin ich in die stationäre Therapie gegangen. Im Krankenhaus habe ich die Diagnosen Binge-Eating, Insulinresistenz, Schilddrüsenunterfunktion und PCO-Syndrom bekommen.

Als es mir dann ein wenig besser ging, wusste ich, ich muss über die Essstörung Binge-Eating und vor allem über Adipositas aufklären, um Betroffenen zu helfen und Mut zu machen. Ich habe mich dann bei einer Fernsehsendung, in der es um Adipositas ging, beworben und wurde angenommen. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, sehr viele Menschen zu erreichen und meine Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig habe ich in sozialen Netzwerken meine Geschichte mit großer Resonanz veröffentlicht und für Betroffene einen sicheren Ort („Safe Place“) geschaffen. Mit so einer großen Reichweite hätte ich nie gerechnet. Am Ende hatte ich über 22.000 Follower und teilweise Aufrufzahlen von 20.000 bis 600.000. Es ist schön zu wissen, dass ich so vielen Menschen helfen und Mut machen konnte. Dennoch bin ich mittlerweile nur noch auf Instagram aktiv und habe meinen anderen erfolgreichen Plattformen den Rücken gekehrt, weil ich den leider noch vielfach auftretenden Hass gegenüber Menschen mit Adipositas nicht mehr ertragen konnte.

Jetzt helfe ich primär Betroffenen, die in meiner Region leben, indem ich mich beim LuKISS e. V., der Ludwigsfelder Kontakt- und Informationsstätte für Selbsthilfe, engagiere.

Leider habe ich meine Essstörung noch nicht überwinden können, obwohl ich bereits 50 kg abgenommen habe. Immer mal wieder rutsche ich von einem Extrem ins andere (entweder Bulimie oder Binge-Eating) und bin auch weiterhin in psychologischer Behandlung. Mich mit anderen Betroffenen auszutauschen, hilft mir sehr, gegen meine „inneren Dämonen“ anzukämpfen. Ich habe große Hoffnung, irgendwann wieder ein halbwegs normales und vor allem gesundes Leben führen zu können.

Meine Familie und die Selbsthilfegruppe sind dabei mein größter Halt, neben der professionellen Unterstützung, die ich erhalte. Denn bei uns in der Selbsthilfe wird jede(r) so angenommen, wie er/sie nun mal ist: kein Hass, keine Diskriminierung, keine Bewertung und vor allem: keine Ausgrenzung.

Sophie Zanko, 31

Selbsthilfegruppe „Binge Eating und Adipositas“

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